Donnerstag, 22. Dezember 2016

Samstag, 13.08.2016: Street Art in Nižnij Novgorod

mit Jakov Chorev

Экскурсия по стрит-арту Нижнего Новгорода с Яковом Хоревым

von Flavia Berger und Silvan Degen



Beim Veloverleih Dinamo begrüsst uns der hochgewachsene Jakov Chorev mit Farbflecken auf den kurzen Hosen. Er erzählt uns den ganzen Nachmittag über die Street Art seiner Heimatstadt. Hervorgegangen aus der Graffiti-Szene ist Street Art in der Stadt heute sehr verbreitet und man trifft immer wieder Kunstwerke an Mauern an. Dies hat auch damit zu tun, dass die städtischen Behörden die Künstler gewähren lassen. Die Werke sind für die Stadt und ihre Bewohner willkommene Farbtupfer zwischen Eintönigkeit und Verfall. Gerade die verlassenen Gebäude dienen als begehrte Leinwand für die jungen Künstler.
„Street Art is about walking around the city freely, not only from home to work, but to explore. Street Art is about communication with the past, the present and the people around. Graffiti is about spraying and leaving your sign on the wall“, erläutert Jakov den Unterschied zwischen den zwei Strömungen.

Jakov selbst gehört zu einem Künstlerkollektiv namens „Muddlehood“, das von einigen Linguistikstudenten gegründet wurde. Deshalb sind ihre Werke oft mit Wortspielen verbunden. Ihr Name selbst ist schon ein solches und ergibt eigentlich keinen Sinn. Er setzt sich zusammen aus „muddle“, was an Strassen erinnern soll, diese unsicheren, aber ehrlichen Orte, und „hood“ von „brotherhood“.

In zügigem Tempo fahren wir mit den Leihrädern zur Oka und deren Ufer entlang bis zu einem alten Wasserturm, auf dem heute Nikita Nomerz’ Bild „Der grosse Bruder“ prangt. Über Steine, Gebüsch und Schlaglöcher führt uns Jakov in das Wäldchen nebenan, wo eine alte, verfallene Fabrik steht. Im Boden öffnen sich hie und da stockwerktiefe Löcher. Zwischen Gräsern und Fundamenten erkennt man das Ornament des alten Bodenbelages. Von den Einheimischen wird gemunkelt, dass sich hier vor geraumer Zeit Hexen und Satanisten für ihre blutigen Rituale getroffen haben. Doch für Street Art Künstler hat der Ort nichts Unheimliches an sich, im Gegenteil. Jakov kann hier jedes Bild einem Künstler zuordnen und hat zu vielen eine passende Anekdote bereit. Er erzählt uns über das Kollektiv TOJ BLUD, für die nichts unmöglich zu sein scheint. Diese Gruppe kommt aus dem Graffiti Hintergrund, weshalb sie bei jedem Bild ihren Namen hinterlassen und einen regelrechten Mythos um sich kreieren. Im ersten „Raum“ der Ruine zeigt uns Jakov eines seiner Werke. Die Wand ist zu einem grossen Teil mit vertikalen, weissen Rechtecken bedeckt. Er nannte es „fear of knowledge“. Als Schuljunge in einem kleinen Dorf habe er oft Tagträume darüber gehabt, wie die Zahlen und Buchstaben seinen Kopf immer weiter füllen, sie kommen aus Büchern und nicht aus der Natur. Er vergleicht es mit dem weissen Raum im Film „Matrix“. Für ihn lässt sich das weisse Muster bis in die Unendlichkeit fortführen. Es stört ihn darum auch nicht, dass zuunterst einige Graffitis sein Werk überdecken. „Everytime we paint we think about the death of the murals. “ Für diejenigen, die ihre Kunst für die Ewigkeit vorsehen, gäbe es Leinwände und Galerien, meint Jakov später.

Auf dem Rückweg biegt Jakov auf eine steile Strasse ab, die zu einem hauswandgrossen Werk von Nikita Nomerz führt. Nizhnij ist anders als Moskau eine Stadt, in der die Bewohner nicht eines Morgens aufwachen und sich über ein neues Bild an ihrem Haus ärgern. Denn sie haben den «Atlanten» zusammen mit den Künstlern entworfen und ausgesucht. „People think it’s a chance for them to show they are not supporting this pity process of ruining. “

Einen Fahrradunfall später befinden wir uns entlang der Rozhdestvenskaja Ulica auf dem Weg zum berüchtigten blauen Zaun, dem синий забор. Die blauen Absperrwände trifft man in Nizhnij immer wieder an. Von der Bevölkerung gehasst sind sie ein Mahnmal für den Streit zwischen Stadtverwaltung und privaten Grundeigentümern. Sie gelten als Symbole der örtlichen Politik, hinter denen die Zeit still steht und sich Wandel nur auf den grauen Betonwänden einer verlassenen Baustelle zeigt. Dieses Areal am Ufer der Wolga ist heute die einzige aktive Hall of Fame für Street Art- und Graffitikünstler. Während wir über gemalte Schlangen und getrockneten Seetang schlendern, erzählt uns Jakov von zwei verfeindeten Graffiti-Gangs, die hier die Spraydosen kreuzen. Er betont jedoch, dass alle Künstler hinter der blauen Wand vereinigt sind. Es ist ein authentischer Ort für Street Art, wo es nach Hafen riecht und Möwen kreischen. Egal ob von Künstlern aus Russland, England oder dem Iran, von Anfängern oder Fortgeschrittenen: hier befindet sich eine sich immer weiter entwickelnde Symbiose ihrer Werke. Der Ort erlaubt den Künstlern mit Perspektive und Raum zu spielen, die Flächen auszunutzen, mit speziellen Gebilden wie Säulen und Brunnen zu arbeiten, ihre Nachricht zu platzieren. Jakov hat hier selbst einen weissen Baum hinterlassen, dessen Äste sich auf den einzigen Metern Beton verflechten, die vom Kreml aus zu sehen sind. Das sei seine politische Botschaft an die Menschen der Stadt.

Als es anfängt zu regnen, retten wir uns in einen Unterstand, wo wir ein weiteres Werk von Nikita Nomerz vorfinden. Dessen Werke haben einen so markanten Stil, dass man sie unter allen anderen sofort erkennt.

Danach bringen wir die Fahrräder zurück in den Verleih. Wo das Runterfahren so viel Spass gemacht hat, kämpfen wir nun gegen die Steigung. Leider müssen wir die Tour wegen dem starken Regen abbrechen. Zu Fuss liesse sich der Rest mit Hilfe der Karte aber problemlos auf eigene Faust erkunden.

Jakov hat uns als geduldiger Erzähler einen Einblick in eine Kunstwelt verschafft, die man aber doch nie ganz verstehen kann, ohne selbst ein Teil davon zu sein.


Links
- Die detaillierte Google Street Art Map: https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1Lltf1ay40Ry0ARdyeBzews8v-Sg&hl=en_US

- Nikita Nomerz: http://www.nomerz.com/the-living-walls (Instagram: nikita_nomerz)

- Muddlehood Kollektiv: http://muddlehood.ru/ (vkontakte: https://vk.com/muddlehood Instagram: muddlehood )

- Fahrradverleih DINAMO: http://i-bike-nn.ru/

- Street Art Künstler von Nizhnij stellen sich vor (aus dem Dezember 2014, etwas veraltet, immer noch spannend) : http://syg.ma/@furqat/ulichnoie-iskusstvo-v-nizhniem-novghorodie

- 7 russische Street-Art Künstler erzählen, warum sie auf den Strassen malen (darunter auch Artjom Filatov und Toj: http://www.colta.ru/articles/club/7191?part=7


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